Rückschlag nach Jahren: Das Post-Polio-Syndrom

Lähmungen in Armen und Beinen: Viele Betroffene sind glücklich, wenn die Symptome einer früheren Kindheitslähmung allmählich abklingen. Oft sind sie dann jedoch so voller Tatendrang, dass die Polio sie wieder einholt.

Es ist die Folge einer Polio-Erkrankung, die meist im Kindesalter aufgetreten ist: Das Post-Polio-Syndrom – PPS. Betroffen sind nahezu alle, die vor Jahrzehnten schon einmal an Polio gelitten hatten. Bei den meisten ist das etwa 30 bis 40 Jahre her.

Polio oder auch Kinderlähmung ist eine Erkrankung, bei der die Nerven geschädigt werden, es treten Lähmungserscheinungen auf. Deren Funktionen übernehmen dann im besten Fall andere Nerven. Das geht lange Zeit gut, aber irgendwann kann es dann zur Überlastung kommen, erklärt Axel Ruetz vom Polio-Zentrum in Koblenz. „Das bedeutet, dass neue Lähmungen eintreten. Die Patienten, die immer versucht haben zu kämpfen und mit ihrer Polio ganz gut klargekommen sind, die merken auf einmal nach 40 Jahren, dass es immer schlechter wird. Und dann kommt eigentlich genau das zurück, was sie schon einmal erlebt haben, Post-Polio-Syndrom genannt.“

Eine Welt ohne Polio

(Foto: picture alliance/dpa) Die früher übliche Schluckimpfung wird heute nicht mehr verabreicht – heute wird der Impfstoff gespritzt

Übertragen wird die Erkrankung zunächst durch das Polio-Virus. Die Ansteckung geschieht über Mund oder Nase. Schon kleinste Speicheltropfen können das Virus verbreiten, aber auch über Schmierinfektion, also Berührungen, kann es sich verbreiten. Vom Mund kommt der Erreger erst in den Magen-Darm-Trakt, und schließlich in die Blutgefäße. Die Lähmungen, die für Polio typisch sind, verlaufen oft in diagonal: rechtes Bein und linker Arm – linkes Bein und rechter Arm.

Die meisten Menschen, die sich mit dem Polio-Virus infizieren, haben jedoch keinerlei Symptome. Sie tragen das Virus zwar in sich, merken aber nichts davon. Das trifft auf 90 Prozent zu. Diese Menschen sind gegen das Virus immun, mit dem sie sich angesteckt haben. Aber es gibt verschiedene Polio-Erreger. Einen zuverlässigen Schutz bietet nur eine Impfung. Seit Anfang der 1960er Jahre wurde sie Kindern als Schluckimpfung verabreicht. Deutschland ist seit 1998 poliofrei, genauso wie alle anderen europäischen Länder. In einigen Teilen der Welt aber gebe es noch immer Neuinfektionen, erklärt Axel Ruetz: „Das sind viele Länder in Afrika und Asien, Pakistan, Afghanistan, Indien. Dort gibt es auch nach dem Jahr 2000, als die Weltgesundheitsorganisation die Polio schon als ausgerottet erklären wollte, noch Polio.“ In Afrika sind vor allem Somalia und Nigeria betroffen.

Ein schlimmer Rückschlag

Eine Eiserne Lunge. St. Bartholomews Hostpital. London. Photographie. Um 1935.<br /><br /><br />
(Foto: picture alliance/Imagno/Austrian Archives) Die Eiserne Lunge wurde früher bei Polio eingesetzt

Viele drejenigen, die unter Polio gelitten haben, waren jahrelang vollkommen beschwerdefrei, bis sie dann vom Post-Polio-Syndrom betroffen waren. Das ist auch die Geschichte von Hans-Joachim Wöbbeking. Er war drei Jahre alt, als die Krankheit bei ihm ausbrach. Das war 1952. Er war komplett gelähmt und musste sogar in die sogenannte Eiserne Lunge, das erste klinische Gerät, mit dem Patienten künstlich beatmet werden konnten. „Nach circa eineinhalb Jahren hat es sich wieder gebessert“, erzählt der Vorsitzende des Bundesverbandes Polio, „und von da an begann über zehn Jahre ein Heilungs- und Regenerationsprozess.“ Er sei ganz normal in die Schule gegangen, sagt er. „Heute würde man sagen, ich wurde integrativ geschult und das hat auch ganz gut geklappt. Aber ich habe auch unter der Hänselei gelitten. Humpelbein hieß ich dann immer.“ An einige Ereignisse erinnert sich Wöbbeking jedoch gerne, wie an die verschiedenen Kuren. „Die Gesunden haben uns dann über den Rücken genommen, uns im Schwimmbad auf den Zehnmeterturm hochgeschleppt und uns dann runtergeschmissen. Das hat einen Heidenspaß gemacht.“

Die Kräfte werden überschätzt

Heute weiß man: Zum Post-Polio-Syndrom kann es durch übermäßige Belastung kommen. Nach oftmals zermürbendem Krankheitsverlauf waren die meisten Betroffenen froh, wenn sich das Krankheitsbild verbesserte und sie sich mit wenigen oder keinen Einschränkungen wieder bewegen konnten. Bei Wöbbeking war das rechte Bein betroffen. Das linke, gesunde Bein war etwa zehn Zentimeter länger. Zunächst sei das durch orthopädische Schuhe ausgeglichen worden, so Wöbbeking. 1980 kam dann eine Operation. Das linke Bein wurde gekürzt. „Ich hatte dann sozusagen einen Hüftgleichstand“, erzählt Wöbbeking „und konnte das erste Mal normale Schuhe im Laden kaufen und anziehen. Das war ein tolles Erlebnis.“

Viele Jahre hat er als Bergbauingenieur unter Tage gearbeitet. „Ich habe so eine Art Gutachtertätigkeit gehabt. Ich habe zwar nicht mit dem Abbauhammer gearbeitet, aber immerhin: Kriechen, Klettern, Krauchen, das gehörte dazu. Aber in den letzten Jahren war das eher schwierig.“ Es hat lange gedauert, bis die richtige Diagnose gestellt wurde: Post-Polio-Syndrom. Er hat Atem- und Schlafstörungen und ist tagsüber oft müde, und er weiß, dass er sich immer zuviel zugemutet hat. Seit 1995 sitzt er im Rollstuhl.

Eine seltene Erkrankung

Physiotherapie im Koblenzer Brüderkrankenhaus (Foto: dpa/ Bildfunk) In Koblenz ist die einzige PPS-Ambulanz in Deutschland

 

In Deutschland sind etwa 70.000 Menschen in verschiedenen Ausprägungen vom Post-Polio-Syndrom betroffen. Damit gehört es in die Reihe der Seltenen Erkrankungen. „Das bedeutet auch“, so Axel Ruetz, „dass die Forschung kein so großes Interesse daran hat. Spezielle Lehrbücher fehlen und während des Studiums gibt es keine gesonderten Vorlesungen zur Polio. Die Versorgung über ganz Deutschland ist also nicht gesichert.“ In Koblenz hat Axel Ruetz die bislang einzge PPS-Ambulanz gegründet. Angefangen hat es im Jahr 2001 mit den ersten klinischen Patienten, die der Arzt behandelt hat und die auch eine ambulante Versorgung brauchten. Es sei notwendig gewesen, eine klinische Einrichtung aufzubauen. Über Informationen in den Medien seien dann rund 500 Patienten pro Jahr gekommen. „Es kam die Frage nach speziellen Therapien auf oder auch: Wie kann man bei der Beatmung helfen? Wie kann man erreichen, dass alltagstaugliche Hilfsmittel eingesetzt werden?“ All das unterstützen die Patienten. Ein Medikament aber, das die Post-Polio-Erkrankung verzögert oder gar stoppen könnte, gibt es nicht.

 

Rückschlag nach Jahren: Das Post-Polio-Syndrom | Wissen & Umwelt | DW.DE | 28.10.2013.

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